Idee der eigenen Erkenntnis
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Was hat Putins Ansprache an die russische Bundesversammlung mit Transnistrien zu tun?

Frank Siebert
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Transnistrien taucht wieder öfter in Artikeln auf, speziell im Zusammenhang mit dem Rückzug einer präsidialen Anweisung, welchen Putin in einer Ansprache an die russische Bundesversammlung begründete. Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?

Ein Artikel auf Yahoo teilt uns mit, dass Putin sein Dekret zur Annäherung mit der EU und der USA und zur Respektierung der Souveränität der Republik Moldau gecancelled habe 1 .

Der Artikel teilt mit, Zitat:

Das Dekret von vor 11 Jahren sah insbesondere vor, dass Russland weiterhin aktiv nach Wegen zur Lösung des Transnistrienkonflikts unter Wahrung der Souveränität, der territorialen Integrität und des neutralen Status der Republik Moldau suchen würde.

Darüber hinaus wurde in dem Dokument die konsequente Umsetzung des Vertrags über die Reduzierung der Nuklearwaffen mit den USA, auch bekannt als New START, festgehalten. Putin kündigte am Dienstag an, dass Russland seine Teilnahme an diesem Vertrag beenden werde.

Zitat Ende

Dieser Text vermittelt den Eindruck, als ginge es bei dem Rückzug der Anweisung in erster Linie um Transnistrien, einem zur Zeit recht autonomen Teil von Moldavien mit etwa 500.000 meist russischsprachigen Einwohnern, in welchem russische Truppen nach gemeinsamer Übereinkunft seit 1994 friedenssichernde Funktion ausüben.

Diese "russischen" Truppen warem schon damals im Kern eine transnistrische Armee unter einer russischen Führung, entstanden aus einem Teil der dort schon zuvor stationierten sowjetischen Armee. Es ist naheliegend zu vermuten, dass auch heute vorwiegend transnistrische Bürger in dieser "russischen" Armee dienen.

Nur der aufmerksame Leser kann kurz danach immerhin korrekt erkennen, dass es nicht um Transnistrien ging, sondern um den "New START"-Vertrag mit den USA, welcher aber von Putin nicht beendet, sondern ausgesetzt wurde. Die Begründung hierfür war, dass die USA den Vertrag von ihrer Seite nicht eingehalten haben.

Warum der Rückzug eines 11 Jahre alten Dokumentes eine seit fast 30 Jahren existierende politische Praxis beenden soll, beantwortet der Artikel auf Yahoo nicht. Er stellt diese Frage nicht einmal.

Der Artikel verlinkt als Beleg das russischsprachige Dekret über den Rückzug des früheren Dekrets, was etwas unbequem für all jene ist, welche Russisch nicht beherrschen. Wer sich ein wenig auskennt weiß, dass sich diese Dokumente auf der Webseite des russischen Präsidenten auch in englischer Übersetzung finden lassen 2 .

Diese offizielle Seite hat außerdem den Vorteil, dass man dort auch gleich einen Link auf die zurückgezogene Anweisung findet.

Dieser Yahoo Artikel ist insofern falsch, als mit dem Wort "insbesondere" statt den Worten "unter anderem" auf den Teil der Anweisung verwiesen wird, der Transnistrien betrifft. Die zurückgezogene Anweisung enthielt noch sehr viele weitere Punkte 3 , zum Beispiel, Zitat:

Die Anweisungen für den asiatisch-pazifischen Raum betreffen insbesondere eine breitere Beteiligung an regionalen Integrationsprozessen mit dem Ziel, die beschleunigte sozioökonomische Entwicklung Ostsibiriens und des Fernen Ostens zu fördern, eine gleichberechtigte, vertrauensvolle Partnerschaft und strategische Zusammenarbeit mit China, eine strategische Partnerschaft mit Indien und Vietnam zu vertiefen und eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit mit Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und anderen wichtigen Nationen im asiatisch-pazifischen Raum aufzubauen.

Zitat Ende

Der Artikel auf Yahoo macht keine Anstrengungen zu behaupten, dass Russland diese Politik nun mit dem Rückzug der Direktive ebenfalls beenden wird. Aus irgend einem Grund wird Transnistrien hier in den Vordergrund geschoben. In der Rede des Präsidenten an die Bundesversammlung taucht weder Transnistrien noch Moldawien auf 4 , und in dieser Rede hatte Putin das Aussetzen des "New START"-Vertrages angekündigt, dessen Umsetzung ebenfalls ein Inhalt der zurückgezogenen Direktive ist.

Es wird hier also ohne eine tatsächliche Grundlage der Eindruck vermittelt, Russland würde seine Politik in Bezug auf Moldawien ändern wollen. Dabei hat Russland ein ganz klares eigenes Interesse die territoriale Integrität und den neutralen Status der Republik Moldau zu bewahren. Sollte Russland den Südosten der Ukraine bis nach Transnistrien hin einnehmen und sich die Oblaste nach Referendum ebenfalls an Russland anschließen, dann kann sich Russland keinen besseren Nachbarn wünschen als die Republik Moldau mit einem russischsprachigen, weitgehend autonomen östlichen Landesteil.

Unter den Aspekten der Strategie und der Sicherheit der möglichen zukünftigen Grenze macht es keinen Sinn für Russland irgend etwas in Transnistrien zu eskalieren.

Leider bedeutet dies, dass die Ukraine, möglicherweise auch die NATO, und vielleicht auch der nicht russischsprachige Teil der Republik Moldawien ein großes Interesse daran haben könnten, den Status-Quo in Transnistrien zu beenden und auf diesem Wege Moldawien zur Kriegspartei zu machen.

Zumindest lässt sich nicht leugnen, dass dieses Vorgehen den Vorschlägen des US-Think-Tanks "RAND Corporation" folgen würde.

Sah ich bei meinem früheren Artikel zu Transnistrien keine Anhaltspunkte dafür, dass Moldawien die Situation in Transnistrien von der eigenen Seite her eskaliert 5 , so könnte sich dies nun vielleicht geändert haben.

Allerdings hat Yahoo diesen Artikel von der ukrainischen Prawda übernommen, es könnte also auch ein gutes Maß an hoffnungsvollen Wünschen in diesen Artikel eingeflossen sein. Die Republik Moldau wäre jedenfalls schlecht beraten ihre Neutralität von sich aus aufzugeben und sich als weiterer US-Proxy für den Krieg gegen Russland zur Verfügung zu stellen.

Nicht auszuschließen ist aber, dass die Ukraine versuchen könnte, die Situation von ihrer Seite her anzuheizen. Die Gestaltung des Artikels könnte durchaus als propagandistische Vorbereitung betrachtet werden.

Ich wünsche den Menschen in Moldawien, dass dieser Kelch an ihnen vorbeigehen möge. Der Eastern Herald berichtet bereits, unter Berufung auf den mir bisher unbekannten Politikwissenschaftler Sergei Markov, dass Zelensky die Eroberung Transnistriens plant 6 , und dass diese vermutlich am 23. Februar beginne.

Das wäre heute, ich schreibe wieder einmal zu langsam.

Ein neues "Seperatisten Gesetz", welches laut einem Bericht der "Balkan Insight" in Moldawien am 02. Februar erlassen wurde, deutet darauf hin, dass es tatsächlich zu einer Eskalation der bisher stabilen Situation kommen könnte 7 .

Die "Ukrainien News" berichtet, dass Zelensky der Republik Moldau seine Hilfe angeboten habe, das Transnistrien-Problem zu lösen 8 . Dieser Artikel berichtet auch, dass die Moldawische Regierung unter Führung der Ersten Ministerin Natalia Gavrilita am 10. Februar zurück getreten ist.

Parallel zu diesen schlechten Nachrichten, welche auf eine Kriegsvorbereitung gegen Transnistrien hindeuten, stellt die Washington Post ihren Lesern die Frage "Was ist Transnistrien, und wird Russland Moldawien destabilisieren?" 9 . Der Artikel ist bereits beinahe ein Jahr alt, wurde aber offensichtlich aus aktuellem Anlass am 14. Februar aktualisiert.

Nur wer den Artikel tatsächlich weit genug liest, wird Hinweise auf weitere Gründe finden, warum Russland nicht wirklich ein Interesse daran haben kann, sich Transnistrien zu eigen zu machen. Die Schlussfolgerung, dass Russlands Interesse daher der Erhaltung der Stabilität in Moldawien gilt, muss der Leser allerdings selbst machen. Der Artikel gibt insofern keine Antwort auf die Fragestellung der Überschrift.

Die Manila Times berichtete am 18. Februar, dass in Moldawien eine neue Regierung ernannt worden ist 10 .

Hintergrund des Rücktritts der vorherigen Regierung waren wohl massive Demonstrationen gegen den Krieg und eine mögliche Beteiligung Moldawiens, aber auch gegen die Preissteigerungen, auch der Energiepreise. Der neu eingesetzte Regierungschef Dorin Recean gilt wie seine Vorgängerin als EU- und NATO-freundlich eingestellt 11 .

Scott.net berichtet, dass der neue Erste Minister von Moldawien angekündigt hat, dass die russischen Schutz-Truppen Transnistrien verlassen, das Gebiet demilitarisiert und die Einwohner reintegriert werden müssen 12 . Auch die TASS berichtet von der Aufforderung Transnistrien zu verlassen 13 .

Damit hatte, mit dem neuen Ersten Minister, die dritte strategischen Empfehlung der RAND-Corporation an die US-Regierung für die Eskalation der Situation in Transnistrien nun wohl Früchte getragen 14 . Diese lautete, Zitat:

Washington could urge Moldova to terminate the July 21, 1994, cease-fire agreement between Moldovan President Mircea Snegur and Russian President Yeltsin that serves as the legal basis for Russian “peacekeepers” in Transnistria.

Zitat Ende

Ein Diplomat des nicht anerkannten Transnistrien betrachtet die Forderung nach einem Abzug der russischen Friedensmission als Kontraproduktiv 15 , was nicht weiter verwunderlich ist. Der Artikel lässt auch erkennen, dass solche Aufforderungen wohl des Ofteren in den Raum gestellt werden, ohne dass wir dies hier bei uns mitbekommen. Ohne das freundliche Hilfsangebot der Ukraine, bei diesem Abzug zu Helfen, wäre der Sache unter Umständen keine große Bedeutung bei zu messen.

Ein großes Problem bei dem Abzug der sogenannten russischen Truppen wäre vermutlich, dass es sich größtenteils wohl um transnistrische Truppen handeln wird, also aus der Sicht Moldawiens im Grund um moldawische Truppen, welche russisch Sprechen, eine russische Militärausbildung haben und eine russische Ausrüstung. Zieht Russland die wenigen tatsächlich russischen Offiziere ab, die es vermutlich in diesen Truppen gibt, handelt es sich plötzlich nicht mehr um eine Schutztruppe, sondern um eine Separatistentruppe.

Im Grunde darf sich danach jeder aussuchen, ob es sich bei den dann folgenden Auseinandersetzungen um einen Bürgerkrieg handelt oder um eine russische Aggression. Dass sich diese Truppen sowohl gegen den Einmarsch moldawischer Truppen von der einen, als auch ukrainischer Truppen von der anderen Richtung zur Wehr setzen werden, steht jedenfalls auch nach dem Abzug der Schutztruppen russischer Staatsbürgerschaft zu erwarten.

Laut TASS berichtete die russische Führungsspitze, dass Kiew einen False-Flag-Angriff von Transnistrien auf die Ukraine vorbereite, um einen Angriff auf Transnistrien zu rechtfertigen 16 .

Darüber kann man einmal kurz Nachdenken. Wir versuchen uns vorzustellen, wie Russland von Transnistrien aus die Ukraine angreift. So ein Angriff von Transnistrien auf die Ukraine ist eine strategische Schnappsidee, denn Transnistrien kann Aufgrund seiner isolierten Lage zwischen der Ukraine und Moldawien in keiner Weise zuverlässig mit Nachschub versorgt werden und die Anzahl der Truppen ist ebenfalls nicht Ausreichend für so etwas.

Sollte es also tatsächlich Berichte über einen Angriff von Transnistrien auf die Ukraine geben, dann ist dies mit Sicherheit eine False-Flag, nicht weil eine russische Führungsspitze dies der TASS vorher mitteilte, sondern weil bereits die strategische Lage Transnistriens keinen anderen Schluss zulässt. Es gibt für eine solche Offensive von Transnistrien keine Erfolgsaussichten, darum muss es sich, wenn Berichte über eine solche angebliche Offensive aufkommen sollten, um eine False-Flag handeln.

Aber vielleicht bleibt es ja ruhig in Transnistrien und Moldawien, denn eine False-Flag, die jeder nach kurzem Nachdenken als solche erkennen muss, und über die man im Vorfeld schon in den Nachrichten liest, ist auch eine blöde Idee.

Auf jeden Fall wünsche ich Transnistrien und Moldawien bei all ihren Differenzen, dass sie sich in einem Punkt einig bleiben: Neutralität ist besser als Krieg.


Erkenntnisse haben meistens vorläufigen Charakter und sind immer individueller Natur . Sie selbst entscheiden, ob Sie Erkenntnisse anderer als Meinung übernehmen oder ob Sie sich Erkenntnisse selbst erarbeiten. Meine Quellenangaben sollen Ihnen bei letzterem eine Hilfestellung geben, Sie sollten aber immer auch weitere Quellen verwenden.

Glauben Sie nicht, auch nicht mir, sondern prüfen Sie und schlussfolgern Sie selbst.


Nachtrag 2023-02-26: Auch der ORF titelt: "Putin annulliert zentrales Dekret für Transnistrien-Konflikt" 17 . Er verweist auf die Interpretation moldawischer Medien, die sich in dieser Frage einig seien, welche natürlich nicht als Quelle verlinkt sind. Auch weist der ORF nicht darauf hin, dass in dem Dekret Anweisungen zu vielen weiteren Themen an das Außenministerium formuliert wurden, von deren Weiterführung ausgegangen werden muss, und es daher sehr fraglich ist, ob die Interpretation bezüglich Transnistrien korrekt ist. Auch kann das Dekret kaum zentral für den Transnistrien-Konflikt gewesen sein, enthielt es doch nur die Anweisung, wie aus der Formulierung im Dokument hervorgeht, in der Transnistrien-Frage die Politik unverändert weiterzuführen. Der ORF liefert damit ein weiteres Beispiel für die hohe Qualität der Alt-Medien - keine konkreten Quellenangaben und keine kritischen Fragen zu den gemachten Aussagen.

Am Ende führt der Link mit dem Text "Lesen Sie mehr" zu dem Hauptartikel "Atomwaffen: Putin kündigt New-START-Aussetzung an" 18 . Dessen Text ist immerhin insofern ausgeglichen, als Putins Aussagen und den Reaktionen verschiedener anderer Seiten in etwa genauso viel Platz eingeräumt wurde. Damit ist dies tatsächlich einer der besseren Artikel zu dem Thema. Aber ein Link auf die vollständige Rede findet sich natürlich auch hier nicht. Spätestens beim letzten Update des Artikels (21. Februar 2023, 19.18 Uhr) hätte man den Link einpflegen können, anstatt unter dem Artikel nur ganz allgemein auf die Webseite des russischen Präsidenten zu verlinken. Aus meiner Sicht ist so etwas unbefriedigend, obwohl bereits viel besser als bei vielen anderen Alt-Medien.

Fußnoten


  1. Putin cancels his decree on rapprochement with EU and USA and respect for Moldova's sovereignty ; www.yahoo.com; 2023-02-22
  2. Executive Order on implementing Russia’s foreign policy revoked ; Team of the Official Website of the President of Russia; President of Russia; 2023-02-21
  3. Executive Order on measures to implement foreign policy ; Team of the Official Website of the President of Russia; President of Russia; 2012-05-10
  4. Presidential Address to Federal Assembly ; Team of the Official Website of the President of Russia; President of Russia; 2023-02-21
  5. Ein Blick nach Transnistrien ; Frank Siebert; Idee; 2022-06-08
  6. Political scientist Markov said that Zelenskyy is preparing the seizure of Transnistria ; News Room; The Eastern Herald; 2023-02-21
  7. Moldova ‘Separatism Law’ Sparks Tensions With Breakaway Transnistria ; Madalin Necsutu; Balkan Insight; 2023-02-08
  8. Ukraine Ready To Help Moldova With Transnistria - Zelenskyy - Ukrainian news ; ukranews_com; 2023-02-20
  9. What is Transnistria, and will Russia destabilize Moldova? ; Washington Post; 2022-04-22
  10. Moldova confirms new government ; Agence France-Presse, Agence France-Presse; The Manila Times; 2023-02-18
  11. Russische Offensive in der Ukraine beginnt, während der Krieg die gesamte Region destabilisiert ; World Socialist Web Site; 2023-02-19
  12. New Prime Minister of Moldova: Russian troops must leave Transnistria, and the region itself must be demilitarized & reintegrated -- Sott.net ; Sott.net; 2023-02-20
  13. Moldova wants peaceful withdrawal of Russian troops from Transnistria ; TASS; 2023-02-14
  14. Ein Blick nach Transnistrien ; Frank Siebert; Idee; 2022-06-08
  15. 'Counterproductive': Transnistrian diplomat slams Moldova's words on Russians’ withdrawal ; TASS; 2023-02-20
  16. Kiev plotting false-flag invasion of Transnistria — Russian top brass ; TASS,2023-02-23
  17. Putin annulliert zentrales Dekret für Transnistrien-Konflikt ; news.ORF.at; 2023-02-21
  18. Atomwaffen: Putin kündigt New-START-Aussetzung an ; news.ORF.at; 2023-02-21