Genozid-Verfahren Südafrika gegen Israel: Der Internationale Gerichtshof hat einstweilige Maßnahmen verfügt
Der Internationale Gerichtshof (International Court of Justice) hat in der heutigen Sitzung zu dem Genozid-Verfahren Südafrikas gegen Israel einstweilige Maßnahmen verfügt 1 2 . Es muss betont werden, dass dies keine Verurteilung Israels in der Sache darstellt.
Zunächst muss ich feststellen, dass ich mit meiner gestrigen Vermutung falsch lag 3 . Der Gerichtshof hat das Verfahren nicht mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die Möglichkeiten einer außergerichtlichen Beilegung des Disputes zwischen Südafrika und Israel nicht ausgeschöpft sind.
Vorhersagen sind halt äußerst schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. In dieser Sache habe ich mich gerne geirrt.
Das Gericht referiert in der Bekanntgabe der Verfügung auch die Voraussetzungen zum Erlassen solcher einstweiligen Maßnahmen im Rahmen der Genozid-Konvention.
Voraussetzung ist explizit nicht die Feststellung, ob Israel irgend eine seiner Pflichten bezüglich der Genozid-Konvention verletzt hat. Diese Frage ist zentrales Thema der Hauptverhandlung.
Für die Entscheidung über vorläufige Maßnahmen muss das Gericht beurteilen, ob die vorgeworfenen Taten und Unterlassungen unter die Bestimmungen der Genozid-Konvention 4 fallen. Dies sieht das Gericht zumindest als teilweise erfüllt an.
Das Gericht sieht sich auch nach Artikel 9 der Konvention dazu berufen den Fall weiter zu führen; das Gericht sieht sich nicht in der Lage dem Antrag Israels auf die Einstellung des Verfahrens zuzustimmen.
Das Gericht stellt fest, dass die Antragsgegnerin die Klagebefugnis der Antragstellerin im laufenden Verfahren nicht angefochten hat. Obwohl in dieser Hinsicht also im Grund alles klar ist, wird dieser Punkt in der Folge ausführlich erläutert. Die Zeichnerinnen der Konvention haben ein gemeinsames Interesse an der Einhaltung der mit der Zeichnung eingegangen Verpflichtungen, so dass jeder Staat ohne Einschränkungen stellvertretend gegen die Verletzung dieser Verpflichtungen Klage erheben kann. Damit bekräftigt das Gericht die nicht in Frage gestellte Klagebefugnis von Südafrika.
Dann wird uns erläutert, der Sinn einstweiliger Maßnahmen sei die Wahrung der von den Parteien in einer Rechtssache geltend gemachten Rechte bis zur Entscheidung in der Sache selbst. Daraus folge, dass der Gerichtshof bestrebt sein muss, durch solche Maßnahmen die Rechte zu wahren, die er später einer der Parteien zuerkennen kann.
In diesem Stadium des Verfahrens habe der Gerichtshof jedoch nicht endgültig festzustellen, ob die Rechte, die Südafrika geschützt sehen möchte, existieren. Er habe nur zu entscheiden, ob die von Südafrika geltend gemachten Rechte, für die es Schutz begehrt, plausibel sind. Außerdem müsse ein Zusammenhang zwischen den Rechten, deren Schutz beantragt wird, und den beantragten einstweiligen Maßnahmen bestehen.
Ich halte hier kurz inne und setze diese Aussagen einmal in den Kontext eines Verfahrens, in dem es um einen Verstoß gegen die Genozid-Konvention geht. Um welches Recht könnte es da wohl gehen? Vielleicht um das Recht auf Leben? Das macht doch im Rahmen einer Genozid-Konvention Sinn, oder? Das Gericht muss also in dieser Phase des Verfahrens nicht endgültig feststellen, ob ein Recht auf Leben vorliegt. Das mag ja formaljuristisch völlig korrekt sein, aber bin ich der einzige, der bei dieser Formulierung in diesem Zusammenhang Bauchschmerzen bekommt?
Im Folgenden geht das Gericht auf die von Südafrika genannten zu schützenden Rechte ein, zum einen das Recht der Palästinenser auf den Schutz vor Genozid und das Recht Südafrikas auf Durchsetzung der Einhaltung der Genozid-Konvention.
Die im späteren Verlauf vom Gericht referierte Definition für Genozid möchte ich hier im übersetzen Wortlaut zitieren:
Der Gerichtshof erinnert daran, dass sich nach Artikel I der Konvention alle Vertragsstaaten verpflichtet haben, das Verbrechen des Völkermordes zu verhüten und zu bestrafen".
Artikel II bestimmt: "Völkermord ist jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten:
- (a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
- (b) Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
- (c) der Gruppe vorsätzlich Lebensbedingungen aufzuerlegen, die darauf abzielen, sie ganz oder teilweise zu vernichten;
- (d) Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;
- (e) die gewaltsame Verbringung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe"
Zitat Ende
Das Gericht stellt auch fest, Zitat:
Während die Zahlen für den Gazastreifen nicht von unabhängiger Seite überprüft werden können, deuten jüngste Informationen darauf hin, dass 25 700 Palästinenser getötet wurden, mehr als 63 000 Verletzte zu beklagen sind, mehr als 360 000 Wohneinheiten zerstört oder teilweise beschädigt wurden und etwa 1,7 Millionen Menschen intern vertrieben wurden (siehe Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), Hostilities in the Gaza Strip and Israel -- reported impact, Day 109 (24. Jan. 2024))
Zitat Ende
Das Gericht führt danach einige Berichte zum Zustand in Gaza an und weist darauf hin, dass es auch einige der offiziellen Verlautbarungen israelischer Amtsträger zur Kenntnis genommen hat, von denen es drei im Wortlaut wieder gibt.
Danach befand das Gericht, Zitat:
Nach Ansicht des Gerichtshofs reichen die oben genannten Tatsachen und Umstände aus, um zu dem Schluss zu kommen, dass zumindest einige der von Südafrika geltend gemachten Rechte, für die es Schutz begehrt, plausibel sind. Dies gilt für das Recht der Palästinenser in Gaza, vor Völkermord und damit zusammenhängenden verbotenen Handlungen gemäß Artikel III geschützt zu werden, sowie für das Recht Südafrikas, von Israel die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus der Konvention zu verlangen.
Zitat Ende
Danach geht es mit der Diskussion weiterer Details weiter, bis das Gericht endlich zum Schluss die folgenden einstweiligen Maßnahmen verfügt.
Zitat unter Fortlassung der Abstimmungsergebnisse:
DER GERICHTSHOF, zeigt die folgenden einstweiligen Maßnahmen an:
''(1) Der Staat Israel ergreift in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in Bezug auf die Palästinenser im Gazastreifen alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, um die Begehung aller Handlungen zu verhindern, die in den Anwendungsbereich von Artikel II dieses Übereinkommens fallen, insbesondere:
- (a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
- (b) Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden bei Mitgliedern der Gruppe;
- (c) der Gruppe vorsätzlich Lebensbedingungen aufzuerlegen, die darauf abzielen, sie ganz oder teilweise zu vernichten;
- (d) Verhängung von Maßnahmen, die darauf abzielen, Geburten innerhalb der Gruppe zu verhindern;
(2) Der Staat Israel stellt mit sofortiger Wirkung sicher, dass sein Militär keine der in Punkt 1 beschriebenen Handlungen begeht;
(3) Der Staat Israel ergreift alle in seiner Macht stehenden Maßnahmen, um die direkte und öffentliche Aufstachelung zum Völkermord an Mitgliedern der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen zu verhindern und zu bestrafen;
(4) Der Staat Israel ergreift sofortige und wirksame Maßnahmen, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe zu ermöglichen, um die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen zu verbessern;
(5) Der Staat Israel ergreift wirksame Maßnahmen, um die Zerstörung von Beweismaterial zu verhindern und die Sicherung von Beweismaterial zu gewährleisten, das im Zusammenhang mit den Vorwürfen von Handlungen gegen Mitglieder der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen steht, die in den Anwendungsbereich von Artikel II und Artikel III des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes fallen;
(6) Der Staat Israel legt dem Gerichtshof innerhalb eines Monats ab dem Datum dieses Beschlusses einen Bericht über alle Maßnahmen vor, die zur Durchführung dieses Beschlusses getroffen wurden.
Zitat Ende
Meine Meinung:
Außer den Punkten 5 und 6 ist hier keine Maßnahme verfügt worden, zu denen Israel nicht sowieso verpflichtet wäre. Punkt 4 ist eine Verpflichtung, welche Israel bereits aus seiner Rolle als Besatzer erwächst, und die Punkte 1 bis 3 ergeben sich aus der Genozid-Konvention.
So sieht sich Israel nun lediglich mit Dokumentationspflichten zusätzlich belastet. Zu den anderen verfügten Maßnahmen war Israel bereits zuvor verpflichtet, diese sind insofern als freundliche Erinnerung zu betrachten.
Dennoch hat dies Implikationen für Israel. Es sieht sich nun dem gerichtlich dokumentierten Verdacht ausgesetzt, vorsätzlichen oder auch fahrlässigen Genozid zu begehen. Verschiedene Äußerungen der Führung deuten eher auf Vorsatz hin, doch dies wird ja Thema der Hauptverhandlung.
Sollte sich Israel an diese einstweiligen Maßnahmen halten wollen, so müsste es die Waffen ruhen lassen und seine Soldaten aus dem Gaza-Streifen zurück ziehen. Zumindest fällt mir keine andere Option ein, wie es sonst die Verhinderung von Handlungen nach Punkt "(1)...(a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe" verhindern will. Und nur dies kann angesichts der bereits existierenden Absichtserklärungen zur Zukunft des Gaza-Streifens dokumentieren, dass Israel nun tatsächlich der Verpflichtung aus dem Genozid-Abkommen nach kommt, während in dem Verfahren zu klären bleibt, ob sie dies zwischenzeitlich ebenfalls taten oder nicht.
Andere Meinungen:
Der Stern titelt: "Internationaler Gerichtshof nimmt Genozid-Verfahren gegen Israel an – keine Verpflichtung zu Waffenstillstand" 5 "
Der Kölner Stadtanzeiger meldet, Zitat:
Der Internationale Gerichtshof (IGH) verpflichtet Israel nicht zum Ende des Militäreinsatzes im Gazastreifen. Das höchste Gericht der Vereinten Nationen beauftragte Israel aber am Freitag in Den Haag, mehr Schutzmaßnahmen für Palästinenser zu ergreifen.
Außerdem hat der Internationale Gerichtshof angeordnet, dass Israel ein Aufhetzen zum „Genozid“ „verhindern und bestrafen“ muss. Südafrika hatte die Klage gegen Israel beim IGH eingereicht, in der Hauptsache muss das Gericht erst noch entscheiden. Währenddessen wächst auch der politische Druck auf Israel angesichts der humanitären Lage im Gazastreifen.
Zitat Ende
BR24 titelt "Netanjahu ist empört nach IGH-Entscheidung zu Israel" 6 und stellt ebenfalls fest, die Richter hätten "nicht angeordnet, dass Israel die Kampfhandlungen in Gaza stoppen muss."
Meine ergänzte Meinung:
Für diese Interpretation, die sich durch die Artikel zieht, spricht, dass Südafrika dediziert die Verfügung eines Waffenstillstandes gefordert hatte, und ein solcher nun nicht dediziert in der Verfügung aufgeführt wird.
Dennoch wäre Israel gut beraten, einen Waffenstillstand einzuleiten. Nach dem Tod von mehr als 1% der Einwohner des Gaza-Streifens, 25 700 von 2,1 Millionen, ist die Erinnerung an die Verpflichtungen aus der Genozid-Konvention zwar in erster Linie an Israel gerichtet, erinnert aber zwangsläufig auch alle anderen Unterzeichner dieser Konvention an deren Pflichten.
Innehalten bis halbwegs Gras über die Sache gewachsen ist, wäre daher keine schlechte Idee.
Erkenntnisse haben meistens vorläufigen Charakter und sind immer individueller Natur . Sie selbst entscheiden, ob Sie Erkenntnisse anderer als Meinung übernehmen oder ob Sie sich Erkenntnisse selbst erarbeiten. Meine Quellenangaben sollen Ihnen bei letzterem eine Hilfestellung geben, Sie sollten aber immer auch weitere Quellen verwenden.
Glauben Sie nicht, auch nicht mir, sondern prüfen Sie und schlussfolgern Sie selbst.
Fußnoten
- THE HAGUE – The International Court of Justice (ICJ) delivers its Order in the case South Africa v. Israel ; UN Web TV; 2024-01-26 ↑
- ICJ Order - Genozide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel) ; www.icj-cij.org; 2024-01-26 ↑
- Genozid-Verfahren Südafrika gegen Israel: Der Internationale Gerichtshof kündigt Termin der Verfügung an ; Frank Siebert; Idee; 2024-01-26 ↑
- Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ; www.uni-marburg.de; 1951-01-12 ↑
- Internationaler Gerichtshof nimmt Genozid-Verfahren gegen Israel an – keine Verpflichtung zu Waffenstillstand ; stern.de, via Internet Archive; 2024-01-26 ↑
- Netanjahu ist empört nach IGH-Entscheidung zu Israel ; BR24; 2024-01-26 ↑