Idee der eigenen Erkenntnis
Idee der eigenen Erkenntnis

Verfassungsgebende Versammlung

Frank Siebert
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Ich habe mich bei einer Initiative für eine verfassungsgebende Versammlung angemeldet. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es mehrere Initiative dieser Art gibt, und bin einfach den Hinweisen von KenFM gefolgt und recht wahllos bei der von KenFM vorgestellten Initiative gelandet. Inzwischen habe ich eine weitere Webseite einer anderen Initiative gefunden, nach der wir alle bereits seit 2015 Teil einer verfassungsgebenden Versammlung sind, auch wenn ich dies offenbar bisher nicht wusste.

So genau weiß ich noch nicht, ob ich der Initiative, der ich beigetreten bin, treu bleiben werde. Im Grunde bin ich ja ein Fan unseres Grundgesetzes. Trotz seiner Schwächen in der Gewaltenteilung und trotz der Verschlechterung des Grundgesetzes durch immer neue Änderungen laste ich es nicht dem Grundgesetz an, dass sein Geist zur Zeit in unserer Gesellschaft nicht mehr gelebt wird.

Es liegt nicht an diesem Papier, es kann nicht an diesem Papier liegen, wenn eine Regierung den Föderalismus begraben kann und ohne nennenswerten Widerstand sich die Verfügungsgewalt über unsere Menschenrechte und Grundrechte anmaßt.

Das Versagen liegt bei uns, bei den Menschen.

Als Software-Entwickler kann man leicht auf die Idee kommen: "Ich schreibe eine neue Verfassung, und die schreibe ich so fehlerfrei, dass so etwas nie wieder passieren kann." Denn ein bisschen ist es tatsächlich in etwa das gleiche wie ein Stück Software, das Betriebssystem unserer Demokratie.

Dennoch ist diese Idee falsch, denn die Umsetzung einer Verfassung geschieht nicht in einem Arbeitsspeicher und einer Zentralen Prozessbearbeitungseinheit mit genau festgelegtem Verhalten, sondern sie geschieht in den Köpfen und Taten der Menschen, welche die Gemeinschaft des Staates bilden.

Diese Menschen sind frei geboren und sie sind nicht normiert und auch nicht spezifiziert um eine bestimmte Funktion fehlerfrei zu erfüllen. Jeder einzelne dieser Menschen ist, Gott sei Dank, einzigartig in seinem Wesen und Denken.

Und heute lebe ich ganz offensichtlich in einer Gesellschaft, welche ihre eigenen Menschenrechte und Grundrechte nicht für wichtig genug hält, sie gegen die Angriffe durch die Regierung zu verteidigen. Unter diesen Voraussetzungen ist es eigentlich egal, ob am Anfang dieses Papiers "Grundgesetz" oder "Verfassung" steht. Das Papier und sein Inhalt spielen nur dann eine Rolle, wenn die Gesellschaft es zum Leben erweckt und am Leben erhält.

Die verfassungsgebende Versammlung arbeitet an einem Vorschlag, der mir in sehr vielen Punkten missfällt. Wie stark sich der Vorschlag noch ändern wird, kann ich nicht abschätzen. Die Web-Oberfläche unterstützt nur einen Struktur-Vorschlag und mit diesem ist bereits vieles festgelegt. Der Vorschlag ist auch nicht im Ansatz an das Grundgesetz angelehnt, was mir selbst aber als Fan des Grundgesetzes ein wichtiges Anliegen wäre.

Diskussionen erfolgen wohl viel über Telegram und damit bin ich da schon mal außen vor. Ein Meeting für Newbees erforderte die Installation von Microsoft Teams. Als dies nicht im ersten Anlauf den gewünschten Erfolg hatte, hatte ich es sehr eilig die Microsoft Software wieder von meinem Rechner zu entfernen.

Mit einem Kollegen der die Web-Software betreut hatte ich nette Telefongespräche, aber es wäre an dieser Stelle wohl eher dazu gekommen, dass ich dann in PHP an dieser Software mitarbeite. Dies wäre einer weiteren inhaltlichen Arbeit nicht sehr zuträglich gewesen, so habe ich diesen Ansatz abgelehnt.

Konsequenter Weise habe ich Dank all dieser Zweifel auch den Brief an Wolfgang Schäuble noch nicht abgeschickt, mit dem ich meine Teilnahme an der verfassungsgebenden Versammlung offiziell anmelden sollte. Ich bin doch sehr unsicher, ob ich wirklich hinter dem verfolgten Ansatz dieser verfassungsgebenden Versammlung stehe, bzw. dem Ansatz dieser Initiative.

Trotz aller Vorbehalte finde ich es gut, wenn das Volk sich selbst in einer Volksentscheidung eine Verfassung gibt. Das Bundesverfassungsgericht hat 1951 in einem Urteil 1 folgende Leitsätze zu diesem Thema formuliert:

21. Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des “pouvoir constituant". Mit dieser besonderen Stellung ist es unverträglich, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden.

a) Sie ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze und - als verfassunggebende Versammlung eines werdenden Gliedes des Bundesstaates - an die Schranken, die die Bundesverfassung für deren Inhalt der Landesverfassungen enthält. Im übrigen ist sie ihrem Wesen nach unabhängig. Sie kann sich nur selbst Schranken auferlegen.

b) Ihr Auftrag ist gegenständlich beschränkt. Sie ist nur berufen, die Verfassung des neuen Staates und die Gesetze zu schaffen, die notwendig sind, damit der Staat durch seine Verfassungsorgane wirksam handeln und funktionieren kann.

c) Ihre Unabhängigkeit bei der Erfüllung dieses Auftrages besteht nicht nur hinsichtlich der Entscheidung über den Inhalt der künftigen Verfassung, sondern auch hinsichtlich des Verfahrens, in dem die Verfassung erarbeitet wird.

Ich selbst schreibe nun an einem eigenen Entwurf und es ist eine herausfordernde Aufgabe. Mein Entwurf, sofern ich es schaffe ihn fertig zu stellen, wird es kaum schaffen in Kraft zu treten, da bin ich mir sicher. Aber im Zuge des Schreibens bin ich gezwungen viele meiner Überzeugungen von verschiedensten Seiten neu zu betrachten und zu bewerten. Ich muss viele Urteile des Bundesverfassungsgerichtes lesen und verstehen, um die Wirkung der heutigen Grundgesetzartikel zu verstehen. Dazu kommen die vielen internationalen und transnationalen Regelungen mit Gesetzeskraft, die in ihrem Zusammenspiel mit dem Grundgesetz verstanden werden wollen.

Und nach dem Verstehen beginnt die Suche nach Formulierungen, die klar sind und die den Grundgedanken der Verfassung wahren. Denn natürlich muss man sich vor dem Schreiben einer Verfassung darüber Gedanken machen, welches Weltbild und welches Selbstverständnis die Verfassung äußert und welchem Zweck die Verfassung dienen soll.

Zum Beispiel:

Dieser Vorschlag betrachtet eine Verfassung als grundlegendes, selbst-gegebenes Regelwerk für eine soziale 2 Gemeinschaft freier natürlicher Personen, welche sich als Staat bezeichnet. Diese soziale Gemeinschaft betrachtet und behandelt alle natürlichen Personen als gleich gestellt und gibt sich selbst in dieser Verfassung mit den Staatsorganen eine Organisationsstruktur zur Organisation und Verwaltung gemeinsamer Angelegenheiten im Inneren und Äußeren.

Damit ist das Selbstverständnis und das Ziel definiert und im Grunde auch der Umfang der Verfassung vorgegeben. Themen, welche diesen Umfang sprengen, werden zu Fremdkörpern im Verfassungstext und gehören außerhalb der Verfassung geregelt. Das ist aber schwerer Einzuhalten als es zunächst scheint. Jeder hat irgend ein Lieblingsthema, dass er gerne ein und für alle mal geregelt sähe, und welcher Platz wäre besser dafür geeignet als eine Verfassung?

Aber eine Verfassung soll Bestand haben über möglichst viele Generationen hinweg. Wenn der Grundgedanke der Verfassung auf dem freien Menschen beruht, dann muss die Freiheit der politischen Gestaltung auch für noch ungeborene Generationen erhalten bleiben, ohne dass diese immer wieder an die Verfassung heran müssen, um ihre Themen durchzusetzen. Daher muss man sich in einer Verfassung von und für freie Menschen auf die absolut wesentlichen und grundlegenden Themen beschränken. Das sind die Abwehrrechte des Einzelnen, also seine Menschen-, Grund- und Freiheitsrechte, deren Schranken und Schranken-Schranken und die Organe der staatlichen Selbstorganisation und deren organisatorische und verwaltende Aufgaben.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen staunte ich vor kurzem nicht schlecht, als mir Artikel 27 Absatz 2 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auffiel:

Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen. 3

Wie hat es dieser Satz in die allgemeine Erklärung der Menschenrechte hinein geschafft? Wo finde ich die Informationen zur Entstehung und die Namen der Personen, welche diesen Satz mit in die Menschenrechtserklärung hinein zwangen? Ich werde danach suchen. Ein Verwertungsrecht als Menschenrecht, dass ist nun wirklich ein prominentes Beispiel für das, was ich mit dem Sprengen des Themas meine.

Neben solchen offensichtlichen Schieflagen sind auch weniger offensichtliche in vielen existierenden Regelungen zu finden. Die Verfassung darf im Kern nicht inkompatibel mit dem geschriebenen internationalen Recht werden. Daher, so befindet auch das Bundesverfassungsgericht, müssen internationale Abkommen vorher Verfassungsrechtlich geprüft werden. Beim Schreiben einer neuen Verfassung besteht das gleiche Problem anders herum. Man darf in der neuen Verfassung den internationalen Abkommen nicht ihre verfassungsrechtliche Grundlage entziehen, kann sich aber auch nicht durch internationale Abkommen die eigene souveräne Verfassungsgebung nehmen lassen. Es ist gut, dass dies in den grundlegenden Bereichen kein Problem darstellt, aber es gibt doch eine Reihe ärgerlicher Stolpersteine.

Womit wir bei einem weiteren Problem sind. Gibt sich ein Volk freier Menschen eine eigene Verfassung, dann passt es nicht wirklich gut, dass internationale Rechtsnormen, welche nicht genauso auf der Entscheidung freier Menschen in einer allgemeinen Abstimmung beruhen, Recht im Verfassungsrang werden können.

Dieses Problem ist nur lösbar, wenn die Menschen der ganzen Welt sich frei eine gemeinsame Weltverfassung geben, welche das heutige internationale Recht ablöst. Solange dies nicht geschieht, wird es immer zu einem Spannungsverhältnis zwischen internationalem Recht und nationalem Verfassungsrecht kommen, sowohl in inhaltlicher Hinsicht als auch in Hinsicht der Legitimationsgrundlage des Rechts.

Insofern ist es zu kurz gedacht, sich hier in Deutschland eine Verfassung in einem richtigen verfassungsgebenden Verfahren zu geben. Es ist ein schöner Gedanke, ich unterstütze ihn, aber tatsächlich ist es eine globale Notwendigkeit, dass freie Menschen die internationalen Regeln ihrer Weltgemeinschaft selbst bestimmen. Ohne diese internationale Verfassung freier Menschen ist eine nationale Verfassung freier Menschen ein Fremdkörper in dieser Welt, welcher in einem solchen Umfeld nicht Bestand haben kann.

Zusammenfassung

Eine Verfassungsgebung löst nicht unser aktuelles Problem der existierenden und inzwischen in einem Bundesgesetz verankerten Grundrechtsverletzungen. Ich bin voller Zweifel, was eine verfassungsgebende Versammlung betrifft, sowohl mit Blick auf die Durchführbarkeit in der derzeitigen politischen Lage als auch in Hinsicht auf die internationalen Reaktionen. Aber die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist in jedem Fall lehrreich. Meine Arbeit an einem eigenen Entwurf mache ich jetzt erst einmal nicht öffentlich und betrachte es selbst mehr als eine Forschungsarbeit.

Fußnoten


  1. Urteil des Zweiten Senats vom 23. Oktober 1951 – 2 BvG 1/51 – in dem Verfassungsrechtsstreit betreffend das Erste Gesetz zur Durchführung der Neugliederung... , opinioiuris.de, 1951-10-23
  2. Der Begriff "Sozial" darf hier nicht missverstanden werden; alle menschlichen Gemeinschaften sind soziale Gemeinschaften, das hat nichts mit Sozialismus zu tun.
  3. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte , Vereinte Nationen, 1948-12-19

Kategorie:Deutschland Kategorie:Verfassung