Idee der eigenen Erkenntnis
Idee der eigenen Erkenntnis

Mensch

Frank Siebert
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In dem sehr kurzen Artikel "Das Wiederfinden der eigenen Sprache" 1 habe ich das Problem angesprochen, aus dem Neusprech heraus zurück zur eigenen Sprache zu finden, in der die Worte das bedeuten was sie benennen.

Ich habe in dem Artikel den Begriff "Kollateralschaden" verworfen und hervorgehoben "ermordete Zivilisten" sei die einzig richtige Bezeichnung. Doch ist dies richtig?

Woher kommt dieses Wort? Was bedeutet es? Das lateinische "civis" wird in ein seiner Herkunft auf das Proto-Indo-Europäische 2 zurückgeführt, wo ihm die Bedeutung "niederlassen, niederlegen" zugeschrieben wird. Mit dem Suffix -ilis 3 4 wird dies zu dem Adjektiv "niedergelassener". Der Zivilist ist also ein niedergelassener, ein sesshafter, ein einwohnender ... . Genau, da fehlt doch das Wort hinter dem Adjektiv! Zivilisation hätte demnach die Bedeutung "Niederlassung", was wir im Heute gebräuchlichen Wortschatz als sehr, sehr kleine Ortschaft bezeichnen würden. Der in diesem Zusammenhang nicht mehr verwendete Begriff "Flecken" fällt mir dazu ein.

Ich gebe zu, dass es mir enormen Spaß macht, den gerne in hochtrabender Selbstgefälligkeit verwendeten Begriff "Zivilisation" auf einen "Flecken" zu reduzieren. Das klingt viel bescheidener und auch viel freundlicher.

Heute steht der Zivilist nicht mehr für einen Niedergelassenen, sondern für einen Nichtstaatsbediensteten, speziell im Zusammenhang mit Kriegsakten auch noch genauer für einen Nichtarmeebediensteten.

In seinem Kern bleibt das Wort aber eine Eigenschaftsbeschreibung für ein nicht genanntes Subjekt, einen Menschen. Einen Menschen, dessen Menschlichkeit durch die Betonung dieser einen Eigenschaft verdeckt wird. Auch wenn es in vielen Fällen der Kommunikation ein pragmatischer und zeitsparender Weg sein mag, sich auf eine wesentliche Eigenschaft zu konzentrieren, sollten wir bei Verbrechen gegen die Menschheit wohl doch auf die im Zusammenhang unwesentliche Eigenschaft verzichten und den Menschen selbst als wesentlich hervor heben.

Wie wäre es also mit "ermordete Personen"?

Für die Herkunft des Wortes "Person" gibt es zwei Ansätze zur Herleitung 5 . Ist das Wort über das lateinische "persono" 6 (hindurchklingen) oder über das griechische "πρόσωπον" 7 ("zum Auge [gerichtet]", Maske, Bühnencharakter) her zu leiten? Da der Künstler auf der klassischen griechischen Bühne seine Stimme durch die Maske erklingen lässt, hat wohl doch beides im Grunde den gleichen Ursprung. Die Herkunft des Wortes erschließt uns einen neuen Blick auf berühmte Persönlichkeiten unserer Zeit. Sind auch sie Masken, hinter denen sich die eigentlichen Sprecher verbergen? Oder sprechen einige für sich selbst, allerdings durch eine nach außen getragenen Maske des Charakters, den sie in der Öffentlichkeit darstellen? Und sollten wir das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit einer semantischen Prüfung unterziehen? Verbirgt sich hinter diesen zunächst so wohlklingenden Worten bereits die Anleitung oder gar Anstiftung zum Verbergen des eigenen Selbst?

Diesen interessanten Fragen will ich hier nicht weiter nach gehen. Ich stelle lediglich fest, dass ich die Formulierung "ermordete Personen" nicht für angemessen halte.

Es sollte daher weder die Formulierung "Kollateralschäden" noch "ermordete Zivilisten" noch "ermordete Personen" verwendet werden, sondern in aller Klarheit von ermordeten Menschen gesprochen werden.

Damit dies nicht schon Morgen einer neuen Formulierung weichen muss, bietet es sich an, auch einen Blick auf die Herkunft des Wortes "Mensch" zu werfen.

Die Sprachhistoriker führen das Wort "Mensch" 8 über das rekonstruierte Proto-Germanische * 9 "manniskaz" 10 auf eine Kombination von *"mann" 11 und dem Suffix *"-iskaz" 12 (Bezug nehmen auf) zurück. Von welchem Proto-Indo-Europäischem Begriff das rekonstruierte *"mann" abzuleiten ist, darüber wird gestritten. Zur Auswahl stehen *"mon-" 13 (Mensch), *"men-" 14 (Denken, Bedenken) oder über *"ǵʰmṓ" 15 die Substantivierung von *"dʰéǵʰōm" (Erde), was dann in etwa mit Erdling zu übersetzen wäre.

Der Herleitung des Begriffes "Mensch" von einem Wort, das früher für "Denken" stand ist schmeichelhaft, aber wollen wir dies glauben? Anthropologen haben sich heute in analoger Weise für den Begriff "Homo 16 Sapiens 17 " (Der [einsichtige, kluge, verständige, weise] Mensch) entschieden. Warum also sollte solch Eigenlob nicht auch für den Begriff "Mensch" Pate gestanden haben? Ganz unwissenschaftlich fühlt sich diese Wortherkunft für mich dennoch falsch an, aber dies wird die Diskussion darum nicht entscheiden.

Die Verehrung von Mutter Erde als Ursprung alles Lebenden und auch des Menschen gibt der Herleitung von dem Begriff "Erdling" einen schönen Sinn. Aber sollte die Erkenntnis des Ichs und die Benennung dieses Ichs als Teil einer Gattung nicht vor der abstrakten Idee einer Mutter Erde geschehen sein?

Aber die Sprachwissenschaftler haben gute Argumente für die Herleitung von "Erdling", da sich dieses Konzept auch in semitischen Sprachen 18 in den Begriffen "אָדָם‎" (adám, Mensch) und "אֲדָמָה‎" (adamá, Scholle) finden lässt. Und wurde der Mensch nicht, laut dem alten Testament, von Gott aus Lehm geformt?

Wie herum auch immer die Begriffsentstehung verlief, die Vorstellungen des Menschseins wurzeln tief in unserer Sprache und in unserem Denken. Wir spüren bei der Verwendung dieses Wortes eine tiefe Verbundenheit, selbst wenn wir die Herkunft des Wortes nicht durchleuchtet haben. Die Herkunft der Worte und ihre tiefere Bedeutung mag uns vielfach nicht mehr Bewusst sein, dennoch wird sie unbewusst von Generation zu Generation weiter gegeben und wirkt sich ganz real auf unser Denken aus.

Hierin liegt die Macht der Worte.

Und wegen dieser Macht der Worte ist es nicht egal, ob wir von Menschen, Personen, Zivilisten oder Kollateralschäden reden oder denken.

Wir sind Menschen, wir dürfen dies nicht vergessen!

Frauen, welche sich wegen des männlichen Artikels von “der Mensch” in der deutschen Sprache grämen, sollten sich die elitäre Herkunft ihrer Benennung anschauen. Der Vorwurf einer sprachlichen Diskriminierung der Frauen wird bei dieser Betrachtung durch die Frage nach einer sprachlichen Diskriminierung der Männer ersetzt, die mit dem männlichen Artikel für den geschlechts-unbestimmten Einzelnen einen sprachlichen Ausgleich sucht. Oder ist die geschlechts-unbestimmte Verwendung des männlichen Artikels sogar Ausdruck der sprachlichen Höherstellung der Frau? War der weibliche Artikel “die” für diesen Zweck zu schade? Oder spiegelt die Verwendung des männlichen “der” für den geschlechts-unbestimmten Einzelnen und des weiblichen “die” für die Mehrzahl die Idee von Mutter Erde wieder, deren Leib die Vielen entspringen? Ich habe noch viele unbeantwortete Fragen an meine Muttersprache.

Fußnoten


  1. Das Wiederfinden der eigenen Sprache ; Frank Siebert; idee.frank-siebert.de; 2021-05-06
  2. civis#Latin , en.wiktionary.org
  3. civilis#Latin en.wiktionary.org
  4. -ilis#Latin en.wiktionary.org
  5. persona#Etymology , en.wiktionary.org
  6. persono#Latin , en.wiktionary.org
  7. πρόσωπον#Ancient_Greek , en.wiktionary.org
  8. Mensch , en.wiktionary.org
  9. Das Zeichen * wird verwendet, um darauf Aufmerksam zu machen, dass es sich um ein rekonstruiertes Wort handelt.
  10. Proto-Germanic/manniskaz , en.wiktionary.org
  11. Proto-Germanic/mann- , en.wiktionary.org
  12. Proto-Germanic/-iskaz , en.wiktionary.org
  13. Proto-Indo-European/mon- , en.wiktionary.org
  14. Proto-Indo-European/men- , en.wiktionary.org
  15. Proto-Indo-European/ǵʰmṓ , en.wiktionary.org
  16. homo#Latin , en.wiktionary.org
  17. sapiens , de.wiktionary.org
  18. homo#Latin , en.wiktionary.org