Aufs Wort Geschaut: Radikal
Das Wort "radikal" ist ja fürchterlich in Verruf geraten. Höchste Zeit einmal nach zu schauen, was dieses Wort denn genau bedeutet, also wo es herkommt und was es bedeutete, bevor es in Verruf geriet.
Der Pfad zur Antwort findet sich bereits in der Herkunftsangabe des Wortes selbst 1 . Man kann zwar den Links folgen, aber die Bedeutung ändert sich auf dem Weg in die Vergangenheit nicht mehr weiter.
Demnach ist das Wort dem Lateinischen "rādīcālis" 2 entlehnt und besteht aus dem Wort "radix", Wurzel, und einer Endung, welche es zu einem Eigenschaftswort macht.
Radikal sein bedeutet also, dass man Wurzeln hat, oder sich auf seine Wurzeln bezieht.
Das klingt doch wirklich konservativ. Noch stockkonservativer geht es im Grunde nicht. Der Wortwitz war keine Absicht.
Wie konnte es dazu kommen, dass wir dieses Wort heute so radikal anders verstehen? Für meinen Erklärungsversuch weiche ich kurz zu den Fundamentalisten aus. Von denen gibt es im Grunde zwei Arten. Die erste Art beruft sich auf uralte, gesellschaftlich fundamentale Grundsätze, an denen unerschütterlich fest zu halten sei. Die zweite Art äußert ihre Fundamentalkritik an den gesellschaftlichen Verwachsungen, welche diese Grundsätze hervorbrachten.
Der Fundamentalist ist nicht ganz zu unrecht in Verruf geraten, egal ob er der ersten oder der zweiten Art angehört, denn sowohl der eine als auch der andere opfert den Dialog und den Diskurs den fundamentalen Grundsätzen, die der eine gar nicht in Frage stellen, und der andere gar nicht akzeptieren kann. Hierin gründet ein scheinbar unüberwindlicher Gegensatz in fundamentalistischen Randgruppen, der die Mehrheit der Menschen, die gerne einen Ausgleich mit ihren Mitmenschen bevorzugen, durchaus zu Opfern von Bürgerkriegen oder von Unterdrückung oder von Kriegen zwischen Staaten machen kann.
Grundsätze sind natürlich wichtig. Und nicht nur Fundamente, sondern auch Wurzeln werden in den Grund gesetzt, auf dass im einen Fall darauf etwas wohnliches und im anderen Fall daraus etwas ersprießliches wachse.
Darum ist die Wurzel zur Darstellung obiger Gegensätze im Grunde genauso gut geeignet wie das Fundament. Nein, ich wollte wieder keinen Wortwitz machen. Versuchen Sie doch einmal dieses Thema darzustellen, ohne dass diese von selbst auftauchen.
Es war insofern naheliegend, dass Wort "radikal" auch auf jene Personen auszuweiten, welche auf grundlegende gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufmerksam machten, und sich hierbei auch nicht scheuten, auf die Wurzel des Übels hin zu weisen. Immerhin ist eine mögliche Bedeutungsvariante ja: "Bezug nehmend auf die Wurzel".
Und da gibt es ja auch tatsächlich vieles, worauf Bezug genommen werden kann. Wir haben immerhin eine lange und oft kriegerische Geschichte hinter uns gebracht, und uralte Konflikte sprießen weiter wie Unkraut zwischen unseren kulturellen Errungenschaften.
Bereits der Blick auf die schwindende Vormachtstellung der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft darf durchaus auch von der Frage begleitet werden, was denn die Fundamente, oder auch die Wurzeln dieser Vormachtstellung waren. Woher kam der Reichtum, mit dem der sogenannte Westen sich aufschwang?
Wir wissen von großen Mengen Gold, dass Amerika in Richtung Europa verließ. Wir wissen von den Opium-Kriegen, von deren Folgen China sich heute beinahe erholt hat, obwohl ich nicht sicher bin, ob man dies so sagen kann. Wir wissen von der weltweiten Errichtung von Kolonien durch westliche Länder, und von dem Strom von Rohstoffen, Waren und Sklaven aus diesen Kolonien, welche den Reichtum privilegierter Minderheiten europäischer Länder und der USA mehrten.
Wenn wir dies nicht als die Wurzel der Vormachtstellung der "westlichen" Länder betrachten wollen, dann bliebe als Alternative noch die damals bessere Waffentechnik, welche obige Ereignisse ermöglichte. Aber diese stammte natürlich aus den Kriegen vorher, insofern drehen wir uns mit diesem Versuch im Kreis.
Jedenfalls handelte es sich nie um eine Vormachtstellung westlicher Staaten, sondern stets um die Vormachtstellung privilegierter Minderheiten, deren rücksichtsloser Kampf um Macht sicherlich ebenfalls Radikal genannt werden kann.
Aus diesen europäischen Wurzeln ist etwas gewachsen, was nicht unbedingt gefällt. Glücklicherweise sind dies nicht die einzigen europäischen Wurzeln, gibt es doch auch die Errungenschaften in z.B. Architektur, Literatur, Theater, Physik und Mathematik, deren älteste Wurzeln wir im Nahen Osten und Griechenland und Türkiye verorten. Diese sind im sogenannten Westen auf fruchtbaren Boden gefallen und haben gar manche schöne Blüte hier gezeigt.
Vielleicht ist es schlicht einmal an der Zeit unseren "westlichen" Garten etwas zu pflegen, damit die schönen Pflanzen wieder Licht und Luft zum Wachsen haben und aufs neue schöne Blüten tragen. Wir müssen nicht alles heraus reißen und auch nicht unsere Wurzeln verleugnen, aber ein wenig Pflege täte dem Garten und auch uns selbst sicher gut.
Solch radikale Tätigkeit nennt sich übrigens "kultivieren", ein Wort, dass sich von dem lateinischen "cultura" 3 ableitet, und welches Sprachforscher in letzter Konsequenz auf das Wenden der Scholle zurückführen 4 . Auch dieses Wort führt uns zurück zu der Tätigkeit des Säens und Wurzel Pflanzens, bei der Sorgfalt durchaus wichtig ist, denn wir wissen doch schon lange: Wer Wind sät, der wird Sturm ernten.
So können radikale Ideen, welche sich mit der Auswahl der richtigen Wurzeln für unsere zukünftige Kulturlandschaft beschäftigen, einen entscheidenden Einfluss auf das Leben der folgenden Generationen haben. Macht es Sinn, dies jenen radikalen Kräften zu überlassen, welche die heutige Ernte an Kriegen und Elend säten?
Einiges hat in unserer Kultur über Jahrhunderte hinweg tiefe Wurzeln getrieben, sich gewissermaßen "radikalisiert", das keine schönen Blüten treibt und keine nährenden Früchte trägt und dessen Wurzeln im Begriffe sind, einige tragende und gute Fundamente unserer Gesellschaft zu untergraben und zu zersetzen, und unseren Zier- und Nutzpflanzen das Wasser abzugraben.
Da kann es nicht schaden, die Scholle einmal etwas tiefer zu wenden, damit Licht auf dieses radikale Geschehen fällt. Ja, es ist wohl Zeit unseren Garten zu bestellen, wenn wir in Zukunft statt Krieg und Elend wieder süße Früchte ernten wollen.
Erkenntnisse haben meistens vorläufigen Charakter und sind immer individueller Natur . Sie selbst entscheiden, ob Sie Erkenntnisse anderer als Meinung übernehmen oder ob Sie sich Erkenntnisse selbst erarbeiten. Meine Quellenangaben sollen Ihnen bei letzterem eine Hilfestellung geben, Sie sollten aber immer auch weitere Quellen verwenden.
Glauben Sie nicht, auch nicht mir, sondern prüfen Sie und schlussfolgern Sie selbst.